Hitler im gemachten Nest der Weimarer Republik

„Warum siehst du seit Neuem ständig Dokus über die Weimarer Republik an, Garfield?“ „Parallelen liegen in der Luft, Olivia. Da muss man genauer hinsehen, was damals falsch lief.“ „Hm.“ „Hitler hätte nicht notwendig kommen müssen. Der Kerl war sogar ganz und gar unnötig.“ „Ganz davon abgesehen, dass er sich zur Weltkatastrophe mauserte …“ „Die Weimarer Republik hat die schwere Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eigentlich gemeistert. Sie ist mit gigantischen Schwierigkeiten fertig geworden und Hitler hat sich einfach nur ins gemachte Nest gesetzt.“ „Ich hab so das Gefühl, die Mehrzahl der Historiker hält Hitler für unausweichlich. Werd mal genauer.“ „Also: Mit bedeutenden Leistungen in Naturwissenschaften und Technik gewannen deutsche Wissenschaftler nach dem Ersten Weltkrieg verlorenes internationales Prestige mühsam zurück. Von den zwischen 1919 und 1933 verliehenen 36 naturwissenschaftlichen Nobelpreisen ging jeder dritte an einen Forscher aus Deutschland. 1927 erreichte die industrielle Produktion wieder den Umfang von 1913. Mitte der zwanziger Jahre überstieg der Außenhandel dann die Ein- und Ausfuhr des Kaiserreichs. Und in Kunst und Kultur gab es sogar eine einzigartige Blüte. Nach Ansicht von Walter Laqueur war Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik „wie selbstverständlich das interessanteste Land Europas“. Denk nur an die Expressionisten, ans Bauhaus, an Künstler und Architekten wie Max Pechstein, Peter Behrens, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Ludwig Meidner, Wassily Kandinsky, Lyonel Feininger, George Grosz, Conrad Felixmüller, Otto Dix, Bruno Taut, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde … Der Film war damals so revolutionär, dass sie aus Hollywood kamen, um in Berlin zu lernen. Einzigartig war auch die Einführung des Wahlrechts für Frauen und deren Gleichberechtigung. Deutschland war in der Weimarer Republik ein hochmodernes, nach oben strebendes Land, vorher übrigens auch schon.“ „Vergisst du da nicht die zwei Wirtschaftskrisen, Garfield? Die dadurch ausgelösten Massenentlassungen, die  Armut weiter Schichten und deren Radikalisierung ….  Insbesondere nach der Krise von 1929 gab es für ältere Menschen keinerlei Hoffnung auf eine Anstellung. Jüngere Arbeitslose mussten jede Chance eines kleinen Verdienstes ergreifen, um dem sozialen Abstieg und der Obdachlosigkeit zu entgehen. Viele erkannten nur im Selbstmord einen Ausweg aus ihrer existenziellen Not. Andere versuchten durch Heimarbeit, Hausieren und Tauschgeschäfte den täglichen Überlebenskampf zu gewinnen oder zogen als Straßenmusiker von Haus zu Haus. Für unzählige Frauen war Prostitution der letzte Ausweg …“ „Ja, natürlich. Es waren sehr harte Zeiten. Und die Kriesgsgewinner tragen Mitschuld an der ganzen Misere mit ihren übertriebenen Reparationsforderungen. Dass sie den Deutschen die Alleinschuld für den Weltkrieg aufbürdeten, war ein verhängnisvoller Fehler. Aber die Krisen hat Weimar dennoch gemeistert: Auf die Ende 1923 abgewendete Hyperinflation erlebte Weimar in den Jahren von 1924 bis 1929 sogar eine Zeit relativer Stabilität, eine Zeit wirtschaftlicher Erholung und auch außenpolitischer Anerkennung. Und damals gelang schon eine Neuregelung der Reparationsfrage durch den Dawes-Plan. In der Folge der Weltwirtschaftskrise 1929 gelang es Brüning dann, auf eine Senkung der Reparationen hinzuarbeiten, die sein Nachfolger von Papen später, in der Konferenz von Lausanne im Juli 1932, auch erreichte. Brüning hat mit seiner Sparpolitik den Siegermächten demonstrieren können, dass Deutschland die für den Reparationstransfer nötigen Devisen trotz der äußersten Anstrengungen nicht mehr erwirtschaften konnte.“ „Und diese verdammte Sparpolitik hat die Leute noch ärmer gemacht.“ „Ja, aber nur vorübergehend. Nachdem das Ziel erreicht, die Reparationslast nicht mehr völlig erdrückend war, ergab sich Spielraum für eine antizyklische Wirtschaftspolitik, für eine Konjunkturpolitik in Form von Inflation als Wachstumsanreiz. Das hätte zu der Zeit auch, wie es Vertreter der Gewerkschaften und Sozialdemokraten vorschlugen, massive Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eingeschlossen, nach dem WTB-Plan  vom Januar 1932. „ „Und? „Wieso wurde nichts daraus?“ „Weil just zu dem Zeitpunkt, zu dem die Weichen für das Ende der Armut, für den Erfolg gestellt waren, sich Hitler ins gemachte Nest setzte.“ „Die Radikalisierung war einfach zu weit fortgeschritten.“ „Sie war weit fortgeschritten. Aber Weimar hat auch erfolgreich die Radikalisierung bekämpft. Sie hat den  Kapp-Putsch vom März 1920 abgeschlagen. Und Hitler wurde von der bayrischen Polizei  beim Putschversuch im  November 1923 einfach kurzerhand festgenommen.“ „Dann wurde er aber doch Reichskanzler und hebelte die Verfassung aus. Der Kerl hatte einfach überall zu viele Sympathisanten  … Garfield, was verziehst du so dein Gesicht? Du weinst ja beinah …“ „Es war alles auf gutem Weg, wenn nicht ein paar Riesendummköpfe Hitler an die Macht gebracht hätten. Ohne jede Notwendigkeit! Brüning hatte bereits ein Verbot der SS und SA durchgesetzt. Hindenburg, der Dummkopf und von Schleicher haben es 1932 wieder aufgehoben. Das verantwortungslose Rindvieh von Papen unterließ es später, die NSDAP zu verbieten und als staatsgefährdende Partei darzustellen. Dazu hätten ihm und seinem Vorgänger die Boxheimer Dokumente Gelegenheit gegeben, die 1931 in Hessen aufgetaucht waren und Putschpläne der Nationalsozialisten verrieten.“ „Du willst sagen, es hing letztlich nur von ein paar Personen an den Schalthebeln der Macht ab, dass sozusagen der Unfall oder besser der Supergau Hitler passierte.“ „So sieht es für mich aus. Der greise Hindenburg, von Papen und Schleicher hielten ihm die Steigbügel, ebenso Hugenberg, der Chef der Konservativen; die Konservativen hatten doch glatt geglaubt, der Reichspräsident, der alte Hindenburg, könne Hitler als Reichskanzler wieder absetzen. Die Idioten gingen davon aus, dass Hitler sich an die  Reichsverfassung halten würde. Als ob Verbrecher das Gesetz respektieren. Olivia, es ist gruselig. Aber manchmal entscheiden ein paar Dummköpfe da oben über das Schicksal von Millionen … Du siehst auch nicht gerade heiter aus, Olivia. Ich würde sagen, weinerlich.“ „Wenn ich denke: ohne den Spuk dieser zwölf finsteren Jahre hätten Millionen von Menschen überlebt, hätte es keinen grässlichen Irrsinn wie den Holocaust gegeben, wäre unser Land so schön wie Frankreich mit seinen intakten historischen Städten; dieses sogenannte tausendjährige Reich, das lumpige 12 Jahre dauerte, hat tausend Jahre deutscher Geschichte in Schutt und Asche aufgehen lassen.“ „Und dabei war dieser Hitler ohne Ideen. Er hat nicht mal die Autobahn erfunden, noch hat er die erste gebaut. Ausgerechnet der spätere Bundeskanzler und damalige Oberbürgermeister von Köln, Konrad Adenauer, kam ihm zuvor. Bereits 1932 hatte Adenauer die erste für den öffentlichen Verkehr freigegebene Autobahn von Köln nach Bonn eröffnet.“ „Im Kaltstellen seiner realen und vermeintlichen Gegner war er weniger phantasielos. 1933 gab es eine absolute Neuheit im Land, das erste KZ …“ „Du wirkst, als hättest du noch Zweifel, Olivia?“ „Du sagst, nur ein paar Leute an oberster Stelle hätten die Katastrophe eingebrockt. Sie wäre also nicht unausweichlich gewesen. Dabei dürfen wir doch nicht die Masse unterschätzen, die der NSDAP hinterherlief. Und schon gar nicht ihre vielen prominenten Unterstützer wie etwa diesen Ludendorff. Hitler wurde zu einem Machtfaktor, um den man nicht mehr herumkam …“ „Aber an die Macht gekommen wäre er nicht, wenn sie ihn nicht eingesetzt hätten. Er hätte die Macht auch nicht erzwingen können. Sein 1923iger-Putsch war ja schon gescheitert, und die Deutschen sind verschlafen, die machen keine Revolution, die stürzen keinen Staat so schnell um.“ „Und was war mit dem Kieler Matrosenaufstand, mit der Novmeberrevolution 1918?“ „Das wurde in der obersten Etage geregelt, nicht von der Straße: Reichkanzler Max von Baden gab am 9. November 1918 eigenmächtig die Abdankung des Kaisers Wilhelm II. bekannt und übergab dann Friedrich Ebert von der SPD die Regierungsgeschäfte. Die Arbeiter- und Soldatenräte wurden also nicht rangelassen. Ich denke, Olivia, Weimar hätte nur weiter bestehen müssen, die Wirtschaft wäre gewachsen, die Unzufriedenheit zurückgegangen, radikale Parteien wären geschrumpft, dieses Land wäre heute weit wohlhabender, weit schöner, weit glücklicher und ein Motor der Zivilisation.“ „Hm …“ „Immer noch nicht überzeugt?“ “ „Hitler war irgendwie der Ausdruck von etwas Bösem, das schon in Weimar und davor im Kaiserreich schlummerte.“ „Was meinst du damit, Olivia?“ „Der Antisemitismus beispielsweise war schon da. Im Kaiserreich war Juden die Karriere im Staatsdienst oder im akademischen Bereich bereits verstellt.“ „Aber die Weimarer Verfassung hat das doch beseitigt! Außerdem: Die Erfolge deutscher Juden als Wissenschaftler zu Zeiten der Weimarer Republik sprechen für sich: Unter den deutschen Nobelpreisträgern zur Zeit Weimars waren fünf jüdische Naturwissenschaftler: Albert Einstein, James Franck, Gustav Hertz, Otto Meyerhof und Otto Warburg.“ „Auf der anderen Seite wurde das vor allem von armen Ostjuden bewohnte Scheunenviertel in Berlin 1923 zum Ort pogromartiger Gewaltexzesse von Antisemiten, die erst durch einen massiven Polizeieinsatz gestoppt wurden. Hitler ist einfach auf der Welle geritten.“ „Ich gebe ja zu, der Antisemitismus war schon da, übrigens nicht nur in Deutschland, und die Republik wäre mit dem Antisemitismus nicht leicht fertiggeworden. Aber wie viel schlimmer hat sich der Antisemitismus ausgewirkt, als ein hasserfüllter, wahnsinniger Antisemit in den Besitz der Staatsgewalt gesetzt wurde und sich dranmachte, mit ihren Mitteln seine Utopie von einem judenfreien Rassereich zu verwirklichen.“

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