Zeitspur-Surfen

Ich bin in einer Stadt unterwegs und für Sekunden habe ich das Gefühl, ich ginge durch eine andere Zeit. Zwar bin ich noch am selben Ort, aber an dem Ort herrscht auf einmal so etwas wie eine Stimmung aus den fünfziger Jahren. Wie gesagt, das geht nur ein paar Sekunden, dann ist wieder die Jetztzeit da. Es ist als ob es nebeneinanderher beliebig viele Zeitspuren gäbe. Man kann sich die als Wege vorstellen. Man weicht vom Hauptweg ab und kommt auf einen Nebenweg, der eine andere Zeit, eine andere Epoche repräsentiert. Der Nebenweg liegt aber so eng beim Hauptweg und ist so schlecht begehbar, dass man rasch wieder auf den Hauptweg zurückgerät.

Verlorene Stimmung

Manchmal denke ich zurück an meine Kindheit, und eine bestimmte Stimmung an einem bestimmten Ort schwebt mir vor. Intuitiv meine ich, dass die Stimmung nicht nur mit dem Ort, sondern fast mehr noch mit der Zeit zusammenhängt. Es ist die Stimmung an einem Ort zu einer bestimmten Zeit. Ich bin dann überrascht, wie intensiv mir diese Stimmung in der Erinnerung erscheint. In meinem heutigen Leben empfinde ich diese intensive Stimmung an denselben Orten kaum mehr. Vielleicht, weil viel zu viel zu schnell vorüberzieht, und sich nichts mehr verdichten kann. Ich schwimme in einem Meer, aus dem man das Salz entfernt hat. Oder so ähnlich.

Verdünnte Atmosphäre

„An was denkst du, Olivia?“ fragt mich Garfield beim Frühstück. „Dass sich die Atmosphäre immer mehr verdünnt.“ „Was meinst du mit Atmosphäre? Die Luft um uns herum?“ „Also gestern Abend sah ich im Fernsehen den Film „Die Katze“ mit Simone Signoret und Jean Gabin. Und der Film hatte unglaubliche Atmosphäre. Er hat mich berührt. Nicht nur das Schauspiel, die transportierten Gefühle; das Gesamte, die Stimmung, die der Film ausstrahlt … Du reist im Geist anderswohin.“ „Hm“, brummt Garfield nachdenklich. „Ich hab „Die Katze“ auch schon gesehen. Alles alte Filme, die so ne Wirkung haben. Die letzten der Art stammen vielleicht aus den achtziger Jahren. Ich glaub, ich weiß, was du meinst. Es ist so was wie Farbe. Die alten Filme hatten mehr Farbe, die neuen sind eher schwarz-weiß. Schwer zu fassen, was Atmosphäre ist. Wie entsteht überhaupt Atmosphäre?“ „Meine Vermutung ist, Atmosphäre entsteht dadurch, dass alles, was geschieht, einschließlich unserer Gedanken und Gefühle, um uns herum in einem Feld gespeichert wird, und von uns dann wieder mehr oder weniger deutlich wahrgenommen werden kann. Wenn du alles nur noch flüchtig machst, schnell, schnell, in Fließband-Manier, wie die heutigen Filme, wenn Handlungen und Ereignisse zu schnell und wahllos aufeinander folgen, dann sind die Produkte auch flüchtig, wenig ausgeprägt. Atmosphäre entsteht so kaum mehr, verdichtet sich nicht.“ Garfield kratzt sich mit der Pfote ein Ohr. „Können wir das auch weniger metaphysisch sehen?“ „Das Feld ist ein Feld der Physik, Garfield. Hier geht’s nicht um Metaphysik.“ „Okay, okay. Ich meinte nur, bleiben wir mal an unserer alltäglichen Oberfläche. Könnte es dann nicht auch mit der Globalisierung zu tun haben? „Die Katze“ hat ne ausgesprochen französische Stimmung. In Paris sieht’s aber bald aus wie in Shanghai. Die Franzosen sind bald nicht mehr französisch. Wir sind bald alle gleich.“ „Das würde erklären, dass wir überall bald dieselbe Atmosphäre haben, auch nicht grade tröstlich …“Die Katze mit Jean Gabin

 

 

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