Das tote Viertel

Work in progress

Manchmal ist es interessant zu schildern, was einen zum Schreiben eines Romans bewegt hat.

Seit 2013 habe ich mich um meine pflegebedürftige Mama gekümmert. Warum tust du so etwas, fragten so einige FreundInnen? Einfach, weil ich sie liebe, gab ich zur Antwort. Ein Heim kam da nicht in Frage. Zwei Jahre vor ihrem Tod zog ich ganz zu ihr, wieder zurück in mein Elternhaus nach Ludwigsburg.

Ich hasste Ludwigsburg und besonders unsere Gegend, sobald ich kein Kind mehr war. Ich fand sie trüb und spießig. Noch mehr hasste ich sie, nachdem ich in meinen Zwanzigern und Dreißigern zehn Jahre in Florenz verbracht hatte. Doch dann kehrte ich zurück, was ich im Leben lange für undenkbar gehalten hatte, schwebten doch dieses Ludwigsburg und die Elbinger Straße in meinem Gehirn als Albtraum herum, in den ich nie mehr zurückversetzt werden wollte.

Da ich mich intensiver um meine Mama sorgte, wenn ich räumlich von ihr hunderte Kilometer getrennt wohnte, und Sorgen einen sehr schmerzhaft plagen können, blieb mir gar nichts anderes übrig, als im fortgeschrittenen Stadium ihrer Hilflosigkeit wieder zu ihr zu ziehen. Sie bei mir zu haben, im selben Haus, war ungemein beruhigend. Auch wenn sie in den letzten Jahren nichts mehr sprach, genoss ich doch immer wieder, neben ihr zu sitzen, genoss ich, dass sie noch da war. Schreiben konnte ich überall, meine Lebenspartner lebten schon lange nicht mehr und Kinder, wenn ich sie denn gehabt hätte, wären vermutlich selbständig. Von daher stand dem Umzug nach Ludwigsburg nichts entgegen. Die Umgebung, nach wie vor öde in meinen Augen, verwandelte ich für mich, indem ich die vielen leerstehenden Häuser und Wohnungen mit Geschichten möblierte. Ich schrieb einen Roman über die Elbinger Straße, die angrenzenden Straßen, über das gesamte Viertel. Im Roman treten sowohl die dort Lebenden als auch die Toten auf, die ehemals dort lebten. (Fiktive und reale Charaktere sind gemischt, wobei ich den realen zumeist nur einen Anklang an den Namen entliehen, ihnen im Übrigen fast alles angedichtet habe.)

Frau Milds Wohnviertel hat sich schwer verändert. Überall trifft sie auf verstorbene Nachbarn. Das Dasein nach dem Tod ist gemütlich. Die meisten leben in ihren ehemaligen Wohnungen weiter wie früher. Bis ein Herr Tober ins Viertel zieht und die Toten auffordert, die Lebenden aus ihren Behausungen zu vertreiben, um diese wieder uneingeschränkt für sich zu besitzen.

Das Viertel hat sich bereits während des Schreibens für mich zu meinem Vorteil verändert. Inzwischen gehe ich an den Häusern mit guten Gefühlen vorbei, weil dort meine Figuren wohnen, sympathische und weniger sympathische…, etwa die tote Frau Meilner, früh Witwe, die weder zu ihrem Mann, noch zu ihrem Sohn je eine Beziehung hatte. Ihre ebenso verstorbene Nachbarin Fräulein Kanter, alte Jungfer, schwärmerische Sekretärin des Rektors einer Grundschule. Die verschiedenen Schwestern Henne, die mit ihrer Mutter ein Handarbeitsgeschäft führten und zu Lebzeiten stramme Nazis waren. Der noch lebende Dr. Krepp, mein wissensdurstiger Chemielehrer, das griechische Rentnerpaar Mitsozakis, das nun das Henne-Haus bewohnt, die junge syrische Familie Kahlifa, die in Fräulein Kanters Wohnung eingemietet ist und so einige mehr.

Es ist jetzt im Viertel, zumindest auf einer Metaebene, etwas los, sogar viel los. Es ist richtig aufregend geworden. Ich habe mir das Viertel wieder angeeignet, zu meinem Viertel gemacht. Und es war leichter, die nervenaufreibenden Jahre an einem Ort zu verbringen, den man nicht am liebsten verleugnet, sondern erneut als Zuhause annimmt.

Meine Mama verstarb am 30. April. 2022. Auf ihrem Grabstein steht Amor vincit omnia.

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