Kapitel 14
Die Einladung ins Schloss der Geheimnisse
Der König ging ganz nah an ihnen vorbei, sodass Zaza ein starker Lufthauch streifte, und befahl knapp: „Folgt mir!“
Ohne zu überlegen, folgten sie ihm. Sie gingen den Gang weiter nach hinten, bogen ab und blieben vor der Tür mit der Aufschrift „Zutritt verboten“ stehen.
„Ihr wolltet doch in diesen Raum?“, sagte der König herausfordernd.
Beide sahen betreten vor sich hin.
Der König öffnete die Tür. „Bitte!“
Zaza machte ein jämmerliches Gesicht. Sie fühlte sich schuldig, obwohl sie doch diejenige gewesen war, die gar nicht mehr in den verbotenen Raum gewollt hatte.
In dem Raum war ein großer Flachbildschirm. Und es waren dort Unmengen von DVDs aufgestapelt. Ein bequemer Polstersessel stand vor dem Schirm, und Kopfhörer lagen auf einem Beistelltisch.
Bevor Zaza noch überlegen konnte, dass das Verbotene höchstens auf den DVDs sein konnte, schaltete der König einen Videorekorder an.
Der große Flachbildschirm wurde hell, und dann kam eine ungeheure Überraschung: Sie sahen Kussszenen aus allen möglichen Kinofilmen. Eine an der andern. Paare küssten sich durch die Jahrzehnte hindurch. Sie erkannten Cary Grant und Mae West, Vivien Leigh und Clark Gable, Richard Gere und Julia Roberts, Drew Barrymore und E.T., Leonardo DiCaprio und Kate Winslet, Brad Pitt und Angelina Jolie, Julie Delpy und Ethan Hawke, Justin Bieber und Emma Watson. Es waren so viele, dass einem schwindelig werden konnte. Dann klickte es leise, und der Schirm wurde schwarz.
Zaza und Lorenzo wussten nicht, wie sie reagieren sollten.
Der König lachte bitter. Er zeigte auf die anderen DVDs. „Hier sind die Liebesszenen aller je in eurer Welt gedrehten Filme aufbewahrt.“
„Aber warum?“, brachte Zaza fast gegen ihren Willen heraus. Sie wollte jetzt auf keinen Fall vorlaut erscheinen.
Der König machte ein betrübtes Gesicht. „Ich habe schon Tausende von Stunden hier verbracht und alle diese Küsse und Umarmungen auf mich wirken lassen. Habe jede Kleinigkeit studiert, jedes Zucken der Mundwinkel, jedes Zittern der Hände, jede Schweißperle an den Schläfen.“ Er machte eine ausladende Bewegung mit dem Arm. „Ich verstehe es einfach nicht.“
Zaza und Lorenzo verstanden auch nichts mehr. Was verstand der König nicht? Warum war das ein verbotener Raum?
Zaza kam es auf einmal wie eine Erleuchtung, und sie platzte heraus: „Liebe!“
Der König lachte laut. „Die darf es im Schloss nicht geben.“
„Daher der verbotene Raum.“ Zaza hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.
„Du hast es erfasst, verehrte Zaza. Die Liebe gibt es in meiner Welt nicht. Ich selbst habe sie nicht und kann sie nicht verstehen. Ich kann sie nicht geben und auch nicht erwidern.“ Der König räusperte sich. „Jetzt habe ich schon zu viel verraten. Und ich verrate euch trotzdem noch mehr. Wer hier etwas mit Liebe zu tun hat, der hat nichts im „Luna Park“ zu suchen. Der gehört nicht hierher.“
Zaza und Lorenzo sahen sich geschwind verstohlen an.
Der König lachte erneut laut. „Ihr seid nur verliebt, das ist es noch nicht.“
Zaza fühlte sich peinlich berührt und wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. Ihr Blick fiel auf die Stapel von DVDs. Auf dem Rücken einer dieser DVDs las sie „Caritas“. Sie wusste, es war lateinisch und hatte auch etwas mit Liebe zu tun. Da, es fiel ihr wieder ein: Caritas bedeutete Nächstenliebe.
Dem König war es nicht entgangen. „Es gibt so vieles, das mit Liebe verwechselt wird. Es ist auch deshalb so schwer, zu wissen, was sie ist. Etwa Leidenschaft oder Sex haben, so scheint es, damit nicht viel zu tun.“
Zaza überlegte flüchtig, ob der König wenigstens leidenschaftlich sein konnte oder sogar Sex hatte.
Der König lächelte böse. Es war ein Lächeln, das sich selbst verschluckte, in sich selbst erlosch. Und Zaza erschrak. Dann machte er eine Handbewegung, als wolle er sie beide aus dem Raum scheuchen und verlieh dem noch mit einem Kopfnicken Nachdruck. Zaza und Lorenzo begriffen und schoben sich vorsichtig an ihm vorbei nach draußen.