Leseprobe: „Die Pflegerin“, novel in ashamingly slow progress

Aus dem Kriminalroman „Die Pflegerin“. S. 50f.

Ein glutenfreier Margarita-Kuchen steht auf dem Tisch. Ich schenke Herrn Brunt den giftfreien Kaffee ein, den ich selbst nachmittags zubereite. Jetzt sieht er mich zum erstenmal an. Er verdreht dabei seinen über den Teller hängenden Kopf so, als hinge er an einer waagrechten Stange. Der Kopf pendelt gleich wieder zurück, über den Teller. Es sieht erbärmlich aus. Ich vergesse für Sekunden, wer er ist. Die Schwere, die auf ihm lastet überträgt sich auf mich. Für Sekunden wünsche ich, dass er sich wieder normal halten kann, die Körperschwäche verschwindet. Dann isst er mit einer Hand den Kuchen, die andere hängt an seinem Arm herab wie ein Fremdkörper. Es ist still. Die Gabel schabt über den Teller. Als er fertig ist, stützt er sich mit beiden Händen an der Tischkante ab und kommt gerade zum sitzen. Ich fühle mich wie damals in der Schule, als ich nichts wusste und befürchtete, der Lehrer würde gerade mich fragen. Panik und vorgefühlte Scham bringen mich in Hitzewallung.

„Na, haben Sie mehr über mich herausgefunden?“

„W-wieso?

„Die Zeitungen unter Ihrer Matratze! Sie haben meine gesammelten Zeitungsartikel entwendet.“

„A-aber, Sie kommen doch gar nicht mehr die Treppe hoch“, entfährt es mir.

„Denken Sie, ich trinke all das Giftzeugs am Morgen? Einen Teil kippe ich in die Gummibaumtöpfe. Denen scheint es nicht zu schaden.“

Ich starre Brunt an.

„Wenn ich sterben will, dann nehm ich eine große Ladung von dem weißen Pulver in der Küche. Ich bestimme, wann es zu Ende ist.“

Mir fehlen die Worte.

„Nicht dass Sie mich falsch verstehen. Ich will sterben. Und zwar möglichst bald. Aber manchmal, da erscheint einem in all dem Elend noch etwas interessant und man möchte es noch eine Weile hinauszögern.“

Als ich immer noch schweige, sagt er: „Wie fänden Sie es, wenn jemand in Ihren Privatsachen rumschnüffelt?“

Ich bin eine Spur wütender als beschämt. Ich kenne das Muster. Menschen, die anderen Böses tun wollen, jagen ihren Opfern häufig noch Gewissensbisse ein, um ihre Verteidigung zu lähmen. „Ich finde es, ehrlich gesagt, harmlos, im Vergleich zu dem, was Sie sich geleistet haben.“ Ich greife unbewusst zum Kuchenmesser, um mich zu schützen, aber Herr Brunt braust nicht auf.

„Ich bin nicht stolz auf das, was ich getan habe.“

Mein Mund öffnet sich ganz von alleine.

„Ich kann es nicht wieder rückgängig machen.“

„Wieso haben Sie das alles getan? Die alten, hilflosen Frauen betrogen, den Leuten ihre Häuser weggenommen. Sie haben nicht Ihresgleichen etwas angetan, sondern nur Leuten, die schwächer waren als Sie. Weil sie in einer finanziellen Notlage waren, weil sie alt und schwach waren oder“, ich bin über mich selbst verwundert, dass ich schreie, „minderjährig!“

Brunts Augen schweifen fahrig über den Tisch.

„Wie konnten Sie denken, so etwas sei erlaubt?“

Brunt setzt sich auf seinem Stuhl zurecht und wirkt auf einmal so wenig debil, dass ich wieder das Kuchenmesser umfasse.

„Ich habe nicht viel gedacht, fürchte ich. Ich habe all das getan, weil ich es tun konnte.“

In mir kocht das Blut hoch. Ich stehe auf und mache mich daran, abzuräumen und ihn einfach sitzen zu lassen. Dann sage ich aber doch: „Und was ist Ihnen jetzt geblieben?“

„Nichts“, kichert er heiser. „Ihnen wird auch einmal nichts bleiben. Am Ende sind wir alle gleich.“

*

Bildergebnis für Pflegerin Jahrhundertwende Fotos

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Erstelle eine Website oder ein Blog auf WordPress.com

Nach oben ↑

%d Bloggern gefällt das: